RAUL S. REYES
Jagd auf den Tod
Ich trat aus dem Messezelt und sah über unser Lager hin. Es lag auf einer Lichtung am Hang, dicht bei dem Pfad zum Fluss hinab. Die Zelte, so festlich, prachtvoll mit ihren Streifen und Troddeln in lebhaften Farben, boten einen merkwürdigen Anblick, jetzt im Frühlicht. Nicht das, was ich von Safaris gewohnt war. Aber Magierinnen waren auch für die Ausrüstung normalerweise nicht zuständig. Und die Anderwelt war auch nicht das Revier, in das ich normalerweise die Jagdgesellschaften führte.
Ich gab diesen Gedankengang auf. Tatsache war doch, dass ich überhaupt nicht viele Safaris geleitet hatte. Diese Öffnung der Anderwelt für Jagdpartys war für die wenigen weiblichen Mitglieder der Uraltgilde der Führer und Jäger wirklich ein Segen. Ich war meist, trotz meiner Talente und Erfahrungen, ja nur »Assistentin« des Chefführers, der eben gemeinhin ein Mann war. Aber wir Frauen hatten aus irgendeinem Grunde die höchsten Erfolgsraten in diesem seltsamen neuen Jagdrevier. Und so waren unsere Buchungen plötzlich explodiert, war ich sozusagen bis zum Ende meiner Karriere ausgebucht. Ich heiße MaCallan Arish und bin Führerin und Jägerin von Beruf. Bei dieser Jagd war ich Oberführerin.
Das war erst meine sechste Safari in die Anderwelt, und ich war froh, dass sie, zur Abwechslung mal, normal zu verlaufen schien. Was immer »normal« in dieser Gegend heißen mag. Sie sah wie eine Savanne aus, mit niedrigen dunklen Bäumen, die vage an Sonnenschirme erinnerten, und dürrem hüfthohem Gras von der Farbe frischen Strohs. Aber darüber wölbte sich ein Himmel, der zu Mittag eine vage rötliche Färbung zeigte und des Abends mehr Purpur, als meine Augen gewöhnt waren. Von unserer erhöhten Position hier am Hang sahen wir recht weit ins Land hinein. Die Tierwelt wirkte vertraut. Am Horizont, dicht bei einer Baumgruppe, die vor der Mittagssonne Schutz bot, sah ich eine Herde von, also, eine Art wilder Rinder grasen. Die Kühe besaßen mächtige Gehörne, die wohl so weit waren, wie ich groß, was aber nicht viel besagt. Die Bullen, die nicht zu sehen waren und zu dieser Jahreszeit womöglich für sich lebten, waren bestimmt noch stattlicher.
Der einzige Unterschied zwischen diesen Tieren, die dort in der Ferne zu sehen waren, und den Wildrindern in den Ebenen bei uns war die Färbung. Die hier waren schwarz. Aber nicht von dem Schwarz meiner Katze daheim. Diese Tiere waren so rabenschwarz, dass sie das Licht aufzusaugen schienen. So schwarz, dass kaum eine Einzelheit an ihnen auszumachen war. So schwarz wie der Tod. Was sie ja auch waren.
Fragen Sie mich nicht nach theoretischen Details! Gut, ich habe als Teil der Ausbildung für meinen neuen Beruf an der Akademie des Obskuren in Dienni eine Reihe von Vorlesungen zur Ökologie, Geologie, Meteorologie und diversen anderen -logien zur Theorie der Anderwelt, oder des Jenseits, wie es umgangssprachlich heißt, besucht. Demnach lebt also der Tod in physischer Form – nach dem Motto: Du kannst ihn berühren und er dich – in diesem merkwürdigen neuen Revier. Der Tod und viele, viele andere Wesen, die alle offenbar feindselig oder hungrig sind.
Die meisten dieser Vorträge gingen mir zum einen Ohr hinein und zum anderen hinaus … Aber es hat anscheinend jeder Tod in »unserer« Welt seine Verkörperung, seine physische Form, in der Anderwelt. Das bedeutet keine Entsprechung, so Punkt für Punkt. Der Tod pflanzt sich wohl fort, wie alles andere in unserer Welt und im Jenseits. Wenn man also mal ein paar Todestiere tötet, senkt das nicht die Sterblichkeitsrate in dieser Welt. Der Tod ist eine Unausweichlichkeit. Natürlich hat die Krone blitzschnell erkannt, welche Möglichkeiten zu einer Erhöhung ihrer Einkünfte sich da boten, und die Lande der Anderwelt sofort für die Jagd geöffnet – gegen Gebühren und Steuern, versteht sich. Das ist ja die andere Gewissheit und Unausweichlichkeit.
Das Frühstück ging nun wohl dem Ende zu. Tanil Alana kam zu mir heraus. »Zwiesprache mit der Natur?«, fragte sie. Da sah ich mich viel sagend um.
»Zeig mir ›Natur‹!«, erwiderte ich nur. Nun lachte sie. Tanil ist meine Trackerin, eine geprüfte Hexe mit unbeschränkter Zulassung und einem Diplom in Praktischer Thaumaturgie oder Wunderheilung. Sie spürt das Wild auf. Ich führe den Kunden zur Tötung des Wildes – oder übernehme das Töten auch schon mal selbst, wenn er die Nerven verliert. Was doch ab und an vorgekommen ist.
Ich hob meine maßgefertigte Armbrust. Hinter uns, auf einem improvisierten Rahmen, trockneten die Felle und Schädel von zwei Säbelhörnern. Zu dem Zaubererteam, das uns begleitete, gehörten auch Experten, die Jagdtrophäen »fixierten«, damit man sie in ihrer jenseitigen Form in unsere Welt mitnehmen konnte. Was wäre eine Jagd ohne Trophäe? Aber ein Säbelhorn hätte sich vor kurzem fast selbst eine geholt, und zwar in Gestalt eines unserer Jagdgäste … der es nicht schaffte, ihm einen Armbrustbolzen in den Leib zu jagen. Es hatte, obwohl angeschossen, noch so viel Kraft und Kampfgeist, dass ich ihm selbst dann einen verpassen musste, um es zu bremsen. In dem Köcher an meinem Gürtel hatte ich ein Dutzend Bolzen, deren jeder von Tanil verhext war. Auch das Kurzschwert an meiner linken Seite hatte sie gefeit. Um den Tod zu töten, braucht man ganz besondere Waffen.
Wir hatten bei diesem Jagdausflug vier Kunden, jeweils mit bunt gemischtem Anhang. Einer kam nun herzu, um sich zu uns zu gesellen. Ich setzte meine neutrale Miene auf. »Einen guten Morgen«, grüßte er uns jovial. Ich nickte bloß zur Antwort. Karran Taillan hatte sein Geld im Weinhandel gemacht, dann in Pferde investiert und an den Ufern des Dienni das beste Gestüt weit und breit aufgebaut. Mit dem Reichtum waren … eine neue Frau, ein Ehrenrang in der Königlichen Garde von Dienni und ein großes Gut mit Herrenhaus am Ufer des Dienni gekommen. Und jetzt war er emsig dabei, es mit Jagdtrophäen auszustaffieren. Und ich fragte mich, wen er denn bestochen hatte, um bei der diesjährigen Lotterie seine Jagdlizenz für die Anderwelt zu gewinnen.
»Ebenfalls einen guten Morgen, Herr Taillan«, erwiderte ich förmlich. Ich mochte ihn nicht. Nennen sie es Instinkt. Ein Weingesicht und ein Typ, als ob man ihn unter einem nassen Stein gefunden hätte – das üppige Honorar, das er bezahlte, war für mich das Beste an ihm … Tanil aber nickte ihm so freundlich zu. Da richtete er den Blick zum Horizont und musterte die Herde der Todesrinder.
»Vielleicht ein paar gute Bullen, die den Damen der Steppe den Hof machen?«, mutmaßte er. Ich lächelte gequält über die dümmliche Witzelei. Aber Tanil zeigte auf die großen Vögel, die über der Herde kreisten.
»Sorgenvögel«, erklärte sie. »Aus irgendeinem Grund während der Brunftzeit nicht präsent. Doch gestern, als wir den Weg dorthin auskundschafteten, habe ich doch die Witterung des Todeslöwen ausgemacht … Er holt sich seinen Tribut von der Herde. Aber er ist schon alt, bereit, hinüberzuwechseln und Pendant zu einem Tod in unserer Welt zu sein. Und er dürfte ein Haupt und eine Mähne besitzen, die zu holen sich gewiss lohnt.«
Karran nickte und leckte sich kurz die Lippen. Er wirkte so ordinär, dass ich den Blick abwandte und nach der Herde sah. Die Kühe hatten sich zu einer losen Verteidigungsformation gruppiert. Die Kälber waren auf die Distanz nicht zu sehen, dazu waren sie zu klein – aber sie befanden sich wohl in der Mitte. Wie alle Jungen, waren sie bestimmt verspielt und begierig darauf, aus dem Schutz ihrer Mamas in die große weite Welt hinauszuspringen. Wo der Tod wartete. Jetzt traf ich meine Entscheidung.
»Wir können die Herde bis Mittag erreichen. Dann hätten wir Zeit«, sagte ich, »das Gebiet zu erkunden und die Pirsch zu dem Zeitpunkt anzusetzen, wo die Todeskatze zur abendlichen Jagd aufbricht.« Ich sah Karran bemüht an. »Wenn das deinen Beifall findet, Herr.« So wartete er gerade lange genug, um den Anschein zu erwecken, es sei seine Entscheidung … und nickte dann zustimmend. Todeslöwen geben recht spektakuläre Trophäen ab.
Die anderen kehrten jetzt, warum auch immer, zu ihren Zelten zurück oder kamen zu uns zur Pferdeanleine, um aufzusatteln und aufzusitzen. Die Unterführerin war Cheila MacLeish, die nur ein paar Jahre jünger als ich war. Sie war so dunkel wie ich hell, so rabenschwarz und gertenschlank wie ich fuchshaarig und stämmig. Klug und zäh war sie außerdem. Sie würde in ein oder zwei Jahren wohl ihre eigene Safari führen. Und mit dem Trio von Führungslehrlingen, die ihr unterstellt waren, war unser Team dann komplett.
Schon gesellten sich zwei andere Kunden zu uns. Der eine war ein weiterer Pferdezüchter von den Ufern des Dienni, Arslan Ashailli mit Namen: Ein Gewürz- und Tabakhändler, von altem Geldadel, der die besten Ställe am ganzen Fluss gehabt hatte … bis Karrans Pferde begonnen hatten, die meisten großen Rennen zu gewinnen. Arslan war schlank und ergraut, Karran aber dick und feuerrot: rot das Haar, rot die Nase, rot die Augen. Sie gaben sich wie dicke Freunde, zwei Sportsleute, die sich zusammen auf der Jagd erholten. (Nun, und wenn Sie mir das abkaufen, warum nicht auch ein Stück Land im Delta?) Zu allem Überfluss war Arslan auch Karrans Schwiegervater – also de facto. Salia, Karrans neue Frau, war nämlich seine Nichte. Er war seit dem Tod ihres Vaters vor einigen Jahren ihr Vormund gewesen und hatte sie neulich Karran in die Ehe gegeben. Und sie war, was man von der zweiten Frau eines so reichen Mannes erwartet: ganz Haar, Kurven und Pheromone … Jetzt eben war sie bei den Zelten.
Unser dritter Jäger, Ronelli Amandor, war Absolvent der Juristischen Fakultät und schon seit zehn Jahren Anwalt für Handels- und Gesellschaftsrecht in Dienni und hatte die anderen zu Klienten. Und er war ein gut aussehender Typ mit, wie meine Tante zu sagen pflegte, »guten Aussichten«. Aber er war noch Junggeselle, was mir zu denken gab. Doch er hatte Augen für Frauen – Tanil und Cheila hatte er einen anerkennenden, ja, Kennerblick zugeworfen … aber Salia übrigens auch. Armand Do’Sateno war der vierte Jäger in unserer Gruppe. Er hatte tags zuvor ein Säbelhorn erlegt und schlief noch das Dinner zur Feier dieses Erfolges aus. Er gehörte dem niederen Adel an und war pensionierter Offizier der Königlichen Garde in Dienni. Wirklich kein schlechter Typ, verglichen mit den übrigen.
Wir hatten gute Pferde, das Allerbeste aus beiden Gestüten. Bevor wir aufstiegen, brachten Salia und einige Diener die Jagdausrüstung heraus. Die Waffen wurden, zur Sicherheit, in einem separaten Zelt verwahrt, im Lager durfte man bloß das Kurzschwert tragen. Die Armbrüste und Köcher waren alle von Purdum in Dienni maßgefertigt. Die Kurzschwerter waren mit Silber ziseliert. Was für ein Haufen Plunder! Salia hatte ihren großen Auftritt bei der Verabschiedung Karrans zur Jagd, so mit Küsschen und allem. Aber dieser Blick, den sie Ronelli zuwarf, ehe sie zu den Zelten zurückeilte, entging mir auch nicht.
So stiegen wir neun denn zu Pferd und ritten los. Zum Glück war unterwegs kaum Gelegenheit zu Schwatz und Unterhaltung. Die Savanne war wie gemacht für Pferde, und so schlugen wir in der schon warmen Morgenluft einen frischen Trab an – bis Mittag würde es heiß wie in einem Backofen. Nun näherten wir uns in weitem Bogen, gegen den Wind, besagter Herde und dem Todeslöwen, der sie belauerte. Hier und da führte unser Weg durch Baumgruppen, die kühlen Schatten spendeten. Gegen Mittag waren wir schon nahe genug, um den Schweiß der Herde zu riechen. Da gab ich das Signal zum Halt, und alles stieg ab.
Auf ein Handzeichen Cheilas brachte einer der Lehrlinge die Pferde zu ein paar Bäumen, damit sie im Schatten weiden konnten. Und ich führte dann, mit Cheila und den übrigen Lehrlingen als Nachhut, meine kleine Truppe auf die größte Baumgruppe in weitem Umkreis zu. Aber nicht lange, da fasste sich Tanil an die Nasenseite, zum Zeichen, dass sie den Todeslöwen ganz nahe rieche. Ich konnte mir gut vorstellen, dass er da unter den Bäumen lauerte. Nun schlichen wir uns langsam, behutsam an. Bis wir den Schatten der Bäume erreichten, war es schon spät am Nachmittag.
Ich ließ unter dem größten Baum lagern, schickte die beiden Lehrlinge auf Wache und inspizierte nun meine Schar. Karran machte mir Sorgen. Jahre des Weintrinkens und der Arbeit im Sitzen forderten ihren Tribut: Der Mann war erschöpft, sein Gesicht von der Hitze, der Anstrengung des langen Ritts und der Anspannung des Anpirschens rot wie ein Winterschal. Also öffnete ich eine große Feldflasche, goss ihm einen tüchtigen Schluck Wasser ein – und dann gleich noch einen, als er den getrunken hatte und wieder etwas zu Kräften gekommen war.
»Geht es besser?«, fragte ich. Er nickte und grinste. Da sah ich zu Tanil auf.
»Was meinst du?«, fragte ich leise.
»Überlass ihn mal mir«, erwiderte sie. Und ich rutschte zur Seite dort auf dem kühlen Grund, sah ihr dann aber zu, als sie anfing. Geprüfte Hexen können doch einiges an Heilkunst ausüben und sind so zur Nothilfe qualifiziert, mag es auch, in den großen Städten, dafür Spezialisten geben. Sie legte ihm dann beide Hände auf die Brust und schloss die Augen. Da begannen seine Atmung und Gesichtsfarbe sich allmählich wieder zu normalisieren.
Meine Instinkte meldeten mir im Moment Anlass zu mehr Sorgen. Tanil war so mit Karran beschäftigt, dass sie den Todeslöwen sicher erst wittern würde, wenn er bereits über uns herfiel. Diese Möglichkeit schien mir plötzlich nur zu wahrscheinlich. Ich brauchte keine geprüfte Hexe zu sein, um zu wissen, dass der Tod nahe war … Jahre der Jagd auf gefährliche Tiere hatten meine Instinkte geschärft. Ich langte nach meinem Köcher und prüfte ihn nach Gefühl. Der nächste Bolzen war bereit, lag in der Entnahmeklammer. Ein leichter Ruck, und ich hätte ihn zur Hand. Ich brachte die Armbrust in Anschlag, registrierte dann zufrieden, dass die anderen meinem Beispiel folgten. Nun bildete der kleine Trupp eine lockere Schützenlinie rund um den ausladenden Baum, unter dem wir gelagert hatten. Und ich richtete mich langsam auf, um so einen besseren Überblick zu bekommen.
Der Schatten, der kurz zuvor noch überaus einladend gewirkt hatte, schien mir plötzlich bedrohlich. Denn jeder Schatten konnte einem Angreifer zur Tarnung dienen. Die Spannung war mit Händen zu greifen. Die Vegetation im Schatten der Bäume war dürftig, aber das verstärkte die Schatten nur noch. Das dichte Laubdach machte die Sache noch schlimmer. Es knackte hinter mir: Karran erhob sich und trat zu mir. Ich musterte ihn von der Seite. Tanil hatte einfach hervorragende Arbeit geleistet: Er sah fast wieder gesund aus.
»Dort ist er«, hauchte er. Ich nickte. Langsam nahm er einen Bolzen aus seinem Köcher und lud seine Armbrust. Ein leises Rasseln sagte mir, dass er sie spannte. Ich zeigte auf einen Punkt in der Schützenkette. Er nahm ihn ein, Arslan und ein Lehrling rückten beiseite, um ihm Platz zu machen. Er bezog Stellung, in guter »Bereitschaftshaltung« … Wenigstens das konnte er. Nun kam Tanil zu mir, fasste sich seitlich an die Nase, zeigte dann auf das Innere der Baumgruppe. Ich nickte und schickte sie mit einem Wink zurück. Dann wies ich meine winzige Truppe über Handzeichen in eine Kampflinie ein. Eine Todeskatze kann so viel wiegen wie drei, vier Mann zusammen, ist so geschmeidig wie Seide und schnell wie ein Blitz. Ja, unsere Chancen schienen mir plötzlich gar nicht mehr gut. Wir setzten uns in Bewegung, rückten vor.
Auf halbem Weg … spürte ich, wie sich mir die Nackenhaare sträubten. Das war es. Ich legte meine Armbrust an, visierte meinen Abschnitt entlang. Aus den Augenwinkeln sah ich, dass die anderen entsprechend reagierten.
Plötzlich geschah es: Ein Schatten löste sich vom Boden und sprang auf uns los, schräg zu meiner Linken, auf Arslan und Karran zu. Ich hörte ein hartes Schnappen, kurzes Surren von Armbrüsten, vernahm, wie mein Bolzen dem Biest in die Flanke drang, sah den blauen Blitz, mit dem sich der Zauber entlud … leider viel zu weit hinten, um groß etwas auszurichten.
Die Todeskatze brüllte markerschütternd, hieb die schwarzen Fänge in die reglose Gestalt, die sie da mit ihrem massigen schwarzen Leib fast bedeckte. Wie ich das schreckgeweiteten Auges verfolgte, schlug mir jemand ins Kreuz, dass ich, meine Armbrust unter mir begrabend, schwer vornüber fiel.
In solchen Momenten vergeht die Zeit seltsam … Wie Honig im Winter, so zäh schien sie zu fließen! Doch hatte ich, als der Todeslöwe seinen Kopf zum zweiten Biss hob, schon meine Armbrust wieder geladen und gespannt. Dann schoss ich, ohne zu zielen, seitlich auf dem Boden liegend und einhändig – ein Schuss auf allerkürzeste Distanz, fast aufgesetzt. Nicht sehr elegant, zugegeben, aber effektiv: Der Bolzen drang knapp hinter dem Brustkorb ein, fuhr schräg nach oben.
Und traf das Rückgrat, oder was immer das Biest dort hatte. Da bäumte es sich im Todeskrampf, riss das Maul weit auf und stieß ein Röcheln und Fauchen aus. So vage hörte ich andere Bolzen einschlagen … dann stach mir der Gestank der dabei explodierenden Zauberladungen in die Nase. Es ist schon ein seltsamer Geruch, fast wie nach einem Blitzeinschlag.
Jetzt zerrte Cheila mich wieder auf die Beine. Aber ich weiß noch, dass ich da alle anbrüllte, doch um Himmels willen die Todeskatze von dem Mann zu ziehen … Das dauerte seine Zeit, aber endlich war sie weg, und da sahen wir einen schrecklich zugerichteten, übel zerfleischten Karran vor uns. Ich dachte nicht einmal daran, Tanil zu bitten, ihn sich anzusehen. Er war tot, für immer von uns gegangen.
»Hol die Pferde«, befahl ich einem der Lehrlinge. Das Mädchen schoss im Laufschritt los … Ich sah die beiden anderen an. »Macht schon, schneidet Äste für eine Schleppe! Cheila«, der Klang ihres Namens ließ sie aufblicken, »du kümmerst dich besser um die Gäste. Bring sie zum Lager zurück.« Sie nickte grimmig und winkte Arslan und Ronelli, ihr zu folgen; was die denn auch taten. Mir fiel auf, dass sie nicht sehr betroffen wirkten. Irgendwie überraschte mich das nicht.
Es brauchte dann etliche Zeit, den Leichnam von Karran und den Kadaver des Todeslöwen auf die beiden Schleppen zu laden, die inzwischen angefertigt worden waren. Tanil fixierte die beiden provisorisch, damit sie ja den Transport zum Lager überstanden. Verstehen Sie mich nicht falsch. In jenem Moment hegte ich keinerlei Gedanken an irgendwelche Trophäen. Aber als Oberführerin war ich, nach dem Gesetz Diennis wie nach den Regeln der Zunft, zur Untersuchung des Vorfalls und baldiger Berichterstattung verpflichtet. Als vereidigte und bestallte Führerin war ich zugleich staatliche Beamtin sowie Offizierin der Königlichen Garde, eine Art unorganisierte Reservistin, und das Zivil- wie das Militärrecht gaben mir, als Führerin einer Jagdgruppe, im Jagdgebiet gesetzliche Vollmacht und Autorität.
Ich hieß Tanil, ein Pferd zum Lager zurückzureiten, und gab ihr einen Lehrling als Bedeckung mit. Wir anderen gingen zu Fuß neben unseren Reittieren her, die ja genug damit zu tun hatten, ihre Lasten zu ziehen. Es wurde ein langer Rückweg, und als wir endlich das Lager erreichten, war es schon ganz dunkel.
Cheila kümmerte sich um die Pferde und ihre Lasten, und ich ging Tanil sprechen. Sie war in ihrem Zelt und dabei, einen vorläufigen Bericht abzufassen. Als ich eintrat, sah sie mit einer Miene, die mich erschrocken innehalten ließ, von ihrem Pergament auf.
»Du hast die Todeskatze mitgebracht?«, sagte sie und fuhr, da ich nickte, leise fort: »Beim Fixieren sah ich, dass ihr ein Bolzen durchs Maul eingedrungen und hinten im Rachen stecken geblieben war. Ich ließ ihn, wo er war. Nach der Befiederung stammt er von Karran.«
»Ein guter Schuss«, meinte ich anerkennend. »Aber selbst die besten Treffer töten nicht immer auf der Stelle …«
»Sicher«, räumte sie ein. »Aber es machte mich neugierig. Da schien etwas nicht zu stimmen. So gingen Cheila und ich ins Waffenzelt und inspizierten die Ausrüstungen.« Damit bückte sie sich und hob einen wohl vollen Hartköcher vom Boden auf.
»Diese Zauberbolzen waren in den zur Jagd beiseite gelegten Köchern«, sagte sie. »Das hier sind die Bolzen, die sie zum Üben benutzten. Sieh!« Sie zog den obersten heraus, horchte kurz auf das leise Schnappgeräusch, mit dem die übrigen per Federdruck so nachrückten, dass nun der zweitoberste von der Ausgabeklammer erfasst wurde – und legte besagten Bolzen auf den Feldtisch, hielt die Hand dicht darüber, murmelte etwas dazu, leider eine Spur zu leise für meine Ohren. Schon einen Augenblick später erglühte das Geschoss in einem schwachen bläulichen Licht. Es war also verzaubert.
Ich fluchte halblaut, fragte: »Vertauscht?« Sie nickte. Ich geriet in hellen Aufruhr. Das war kein simpler Jagdunfall mehr. Ich überlegte kurz. »Ein Versehen?«, fragte ich, voller Hoffnung. Sie schüttelte den Kopf.
»Ich wittere böse Absicht«, erwiderte sie und zeigte mit dem Kopf auf ihr Pergament. »Das steht auch in meinem Bericht …« Mir wurde leichter: Die Aussage einer Hexe, ob mündlich oder schriftlich, hat vor jedem Gericht Beweiskraft.
Also setzte ich mich auf den zweiten Feldstuhl. Das Tor nach Dienni zurück würde erst wieder in drei Tagen geöffnet, und es gab keine Möglichkeit, eine Bitte um vorgezogene Öffnung durchzugeben. Die Behörden von Dienni würden den Fall sodann übernehmen und eine Untersuchung durchführen. Die meine wäre bestenfalls oberflächlich, da ich, laut Gesetz, niemanden gegen seinen Willen und ohne Rechtsbeistand verhören durfte. Und Rechtsbeistände waren vor drei Tagen nicht zu haben …
»Irgendeinen Verdacht … wer sie vertauscht haben könnte?«, fragte ich.
»Nein, dazu sind die Verhältnisse zu unklar. Jeder hatte ja Zugang zu den Waffen und den Übungsbolzen.«
Ich nickte. »Motive?«
Sie sah mich mit ihren kühlen braunen Augen an. »Ich bezweifle, dass ihn jemand hier wirklich mochte«, erwiderte sie. »Arslan konnte ihn auf den Tod nicht ausstehen, seine Frau hat ihn wegen seines Geldes geheiratet, erzählt man sich jedenfalls, und man erzählt sich zudem, sie habe eigentlich Ronelli Amandor den Vorzug gegeben. Und er, er scheint ihr Interesse zu erwidern. Eine hübsche Bande, nicht wahr?«
»Ist es nicht komisch, dass Arslan seiner Nichte erlaubt, ihn zu heiraten«, meinte ich da, »wenn er so schlecht auf ihn zu sprechen war?«
Sie zog ein Gesicht. »Ich bin heute Abend mal ein richtiges Klatschmaul«, sagte sie und lächelte. »Man hört so, sie sei die ›heiße Braut‹ gewesen bei den jungen quicken Hähnen der besseren Stände von Dienni … Um einen Skandal zu vermeiden, musste man sie fix verheiraten. Sie zählt auch zu den oberen Kreisen und sieht gut aus. Ein guter Fang also für so einen Aufsteiger wie Karran. Arslan dachte sich ja vielleicht, sie hätten einander verdient. Seine Vorstellung von einem guten Witz!«
Ich holte erst einmal tief Luft, um verdauen zu können, was ich hier zu hören bekommen hatte. »Bis wir wieder in Dienni sind«, knurrte ich dann, »sind die Spuren kalt geworden … und es wäre schon Glück, wenn die Ermittlungsbehörde in der Sache mehr als eben einen Jagdunfall sähe.«
»Wer immer die Bolzen vertauscht hat, war verdammt schlau«, gab Tanil mir zu.
»Sehen wir uns doch mal den Todeslöwen an«, schlug ich vor. »Ich muss ja immer noch meinen Bericht schreiben und wäre da für deine Kommentare dankbar.«
Tanil nickte und folgte mir in die sternklare Nacht hinaus. Dort fanden wir Gesellschaft … Armand Do’Sateno! Er besah sich gerade die Todeskatze, als wir daherkamen, und empfing uns mit einem Nicken und Räuspern. Er war schon älter, aber noch prachtvoll in Form und ein trefflicher Schütze. Von der Art Kunden wünscht sich eine Führerin noch mehr.
»Guten Abend«, grüßte er, als wir zu ihm traten, und nickte zu der »Katze« hinab. »Hässliches Biest, was?« Da musste ich ihm Recht geben. Todeslöwen können eine Eleganz, eine, wenn auch mörderische, Anmut haben, aber der da war hässlich. Man hatte ihm das Maul aufgesperrt, und so nahm ich eine Fackel, leuchtete in die stockfinstere Höhle hinein. Von dem Bolzen war nur noch die zerfetzte Befiederung zu sehen, Spitze und Schaft staken tief in der hinteren Halswand.
»Ein guter Schütze«, lobte ich.
»Hmm, ja, ja«, pflichtete der alte Soldat mir bei. »Guter Mann das. Und ein guter Schütze, auch nach all dieser Zeit noch.« Ich blickte verdutzt zu ihm auf, und er registrierte das und fuhr denn fort: »Ja, lange vor deiner Zeit in der Garde, junge Frau … Wir kämpften zusammen in den Feldzügen gegen die Räuberkönige flussauf. Guter Mann. Nur schade, dass er dann den Dienst quittierte, um Kaufmann zu werden.«
»Das war es also«, flüsterte ich und erläuterte, auf seinen fragenden Blick: »Er handhabte die Waffen gut wie einer, der es gelernt hat. Und nahm seinen Platz in der Linie auch wie ein erfahrener Soldat ein.«
Er ließ ein kurzes Lächeln unter seinem melierten Schnäuzer spielen und knurrte und nickte zustimmend und anerkennend.
Da winkte ich Tanil. Und sie kam her, stellte sich dicht neben mich und spähte in das übel riechende Löwenmaul. Dann langte sie gleich hinein, hielt die Hand über die zerfetzte Befiederung und murmelte etwas. Nichts. Es geschah nichts.
»Ein Übungsbolzen«, sagte sie. »Damit ist es klar. Da wurde vertauscht.«
»Vertauscht?«, fragte Do’Sateno.
»Das ist ein Übungsbolzen«, erklärte ich. »Und den hat wohl jemand Karran untergejubelt, gegen einen der Zauberbolzen.«
Erstaunen erst, dann Zorn und grimmige Entschlossenheit malten sich im Gesicht des alten Soldaten.
»Irgendwelche Verdächtigen?«, fragte er. Tanil gab ihm einen kurzen Bericht über die Situation, einschließlich ihrer rechtlichen Finessen. Über die hatte er seine eigene Meinung und drückte sie auch mit so einem Soldatenwort aus, das ich lieber nicht wiedergeben möchte.
»Nicht wie in den alten Zeiten«, knurrte er und strich sich seinen Schnurrbart. »Die Militärgerichte, die gaben uns die Möglichkeit, das Land von den Räuberbaronen zu befreien …« Da murmelte ich etwas Unverbindliches, richtete mich auf, und Tanil tat desgleichen. Und wie ich dann auf diese Todeskatze hinabsah, musste ich an jene Geschichten denken, die ich vor Jahren gehört hatte. Ein Ausbilder, der als Scout der Garde bei den Kampagnen einen Arm verlor, hatte sie mir erzählt – harte Kämpfe seien es gewesen, hatte er gesagt und auch die Standgerichte erwähnt, die ohne viel Federlesen abgeurteilt hätten. Harte Justiz für harte Zeiten … An dem Weinhändler war mehr dran gewesen, als ich gedachte hatte. Ich leistete ihm also innerlich Abbitte, mochte ihm das auch nichts mehr nützen.
Fragen Sie mich nicht, wann ich dann diesen Einfall hatte – vielleicht ja, als ich mit Do’Sateno über die alten Zeiten sprach … vielleicht auch, als ich mich in Schuldgefühlen darüber erging, Karran mit einem so harschen Urteil Unrecht getan zu haben. Aber dann hob ich schnell den Blick und sah meine Gesprächspartner an.
»Herr Armand Do’Sateno und Frau Tanil Alana«, sagte ich und fuhr, als die beiden, besonders natürlich Tanil, mich wegen meiner Förmlichkeit fragend musterten, ebenso formell fort: »Wir sind ohne Kontakt zu den Behörden von Dienni. Wir sind im Ausland.« Sie nickten alle beide. Die Anderwelt war, das stand außer Frage, so ausländisch, wie es ausländischer nun nicht mehr geht. »Deshalb unterstehen wir dem Militärrecht.« Das war eine Sophisterei. Die Gilde benutzte, in Ermanglung eines Besseren, unser Militärgesetzbuch als Richtschnur bei Safaris ins Jenseits. Die waren eben auch juristisch reines Neuland.
»Wieso … ja, natürlich«, erwiderte Do’Sateno und strahlte. Tanil dagegen sah eher zweifelnd drein.
»Da muss ich wohl mein Gesetzbuch konsultieren«, sagte sie.
»Ich bitte darum«, fuhr ich fort. »Herr Karran Taillan war Offizier der Garde, nicht wahr?« Hier umging ich die Frage, ob nur ehrenhalber. »Sein Tod berührt demnach diese Garde.« Do’Sateno nickte langsam, mit grimmiger Miene. »Also können wir, wenn Tanils Recherche nichts Gegenteiliges ergibt, ein Militärgericht einberufen und alle Verdächtigen, auch gegen ihren Willen, unter Eidbann verhören.« Sie sahen mich beide an – Armand Do’Sateno begeistert, Tanil etwas skeptisch.
»Ich weiß nicht«, sagte sie zögernd und unsicher. »Lass mich erst mal in meinem Gesetzesbuch nachsehen!« Auf mein Nicken eilte sie zu ihrem Zelt … Do’Sateno und ich gingen uns ein Glas Wein holen, und unterhielten uns, während wir noch an der Feldtheke warteten, über die guten alten Zeiten einst und über die glorreichen Feldzüge und Schlachten. Doch nicht lange, da stieß auch Tanil wieder zu uns.
»Ich denke, wir kämen damit durch«, sagte sie gleich.
»Ausgezeichnet!«, knurrte Do’Sateno. Er war Feuer und Flamme und ich etwas gedämpft. Meine erste Begeisterung hatte sich gelegt. Aber für einen Rückzieher war es jetzt zu spät. Also verbrachten wir, nachdem ich ein Wort mit Cheila gewechselt hatte, den Rest der Nacht damit, unser Vorgehen zu planen.
Der Morgen kam mit einem hohen wolkenlosen Himmel und einem spektakulären Sonnenaufgang über dem Gebirge hinter unserem Lager. Doch als ich nach dem Frühstück die Lagerversammlung eröffnete, warfen die Berge noch immer lange Schatten über die Ebene.
»Nach den Statuten der Gilde, dem Militärgesetzbuch und den Gesetzen Diennis zur Regelung von Expeditionen im Ausland«, begann ich, »rufe ich hier und heute ein Militärgericht zur Untersuchung des Todes von Herrn Karran Taillan, Bürger von Dienni und Offizier der Königlichen Garde von Dienni, ein.« Darauf blickte ich prüfend in die Runde. Cheila war, so wie ich, mit einem Kurzschwert und einer geschulterten Armbrust bewaffnet. Do’Sateno trug auch ein Kurzschwert – aber nicht etwa, wie man es bei so einem Herrn hätte erwarten können, eine Galawaffe, sondern eine alte, altgediente Gardeklinge. Die drei Lehrlinge waren wie Cheila und ich gewappnet. Dazu kamen zwei Bediente Do’Satenos, die gleichfalls Schwert und Armbrust trugen – diese in Präsentierhaltung. Sie sahen wie Soldaten aus und waren es wahrscheinlich auch.
»Nach besagten Gesetzen und Statuten«, fuhr ich sodann fort, »berufe ich, MaCallan Arish, Oberführerin aus der Gilde der Führer und Jäger, dieses hohe Gericht. Die edle Frau Tanil Alana, geprüfte, vereidigte und zugelassene Hexe, vertritt die Akademie des Obskuren und die Hexengilde. Der edle Herr Armand Do’Sateno, Offizier der Königlichen Garde, wird das Militär vertreten.« Und als man in der unteren Lichtung ein paar Feldstühle und ein Tischchen aufgestellt hatte, fingen wir mit unserem improvisierten Gerichtshof an.
Es ging alles wie am Schnürchen. Wir ließen jeden unter Eid aussagen. Ich, Tanil und Do’Sateno sagten unter Großem Eid aus. Es zeigte sich, dass jeder zu dem Rüstzelt Zugang hatte und die Vertauschung, die wir bloß als »wohl versehentlich« bezeichneten, vorgenommen haben konnte … Bis Mittag hatten wir die grundlegenden Vorarbeiten erledigt, und so zog sich das Gericht denn zum Essen zurück.
Über am Spieß gebratenem Säbelhorn, was recht gut schmeckt, besprachen Armand, Tanil und ich dann die Strategie für das weitere Vorgehen.
»Die drei zu bewegen, der Zauberprobe zuzustimmen, das kann schwierig werden«, meinte Tanil.
»Wir können sie anordnen«, versetzte Do’Sateno.
»Richtig«, stimmte ich ihm zu. »Aber versuchen wir es zuerst mit Raffinesse.« Ich umriss ihnen meinen Plan und bekam zwei zustimmende Lächeln als Antwort.
Nach dem Essen trat das Gericht nun erneut zusammen. Cheila hatte die improvisierte Gerichtswache, die aus unseren drei Lehrlingen und den Bedienten Do’Satenos bestand und auf ihr Kommando hörte, strategisch klug beidseits des versammelten Lagers aufgestellt. Ich eröffnete also die Sitzung.
»Herr Arslan Ashailli«, rief ich laut. »Frau Salia Taillan, Herr Ronelli Amandor. Tretet bitte vor …« Sie saßen in der vordersten Reihe, erhoben sich jetzt und traten vor uns hin.
»Es besteht die entfernte Möglichkeit, dass Herr Karran Taillan seinen Zauberbolzen aus Versehen, ja, Absicht durch einen normalen ersetzt haben könnte.« Sicherlich eine recht entfernte Möglichkeit, aber ich räumte das ja ein. Und fuhr dann fort: »Das Gericht will nun euch drei, als dem Verstorbenen Nahestehende, betreffs seines geistigen Zustandes und aller persönlichen oder geschäftlichen Angelegenheiten, die sein Denken oder Verhalten beeinflusst haben könnten, befragen.« Ich hielt kurz ein, um die Wirkung dieser Eröffnung auf sie abschätzen zu können. Wohl keine, bis dahin. Weiter denn!
»Ihrer möglicherweise heiklen Natur wegen werdet ihr eure Aussagen unter Ausschluss der Öffentlichkeit vor der diesem Gericht angehörenden vereidigten Hexe machen, und das unter Eidzauber. Sie wird dem Gericht nur eure, den vorliegenden Fall betreffenden Einlassungen, so gegeben, mitteilen.«
Damit schloss ich – und es war nicht schwer zu erkennen, was jetzt in den Köpfen dieser drei da vorging: Jeder von ihnen würde nur zu gern über Herrn Karran auspacken … vor allem unter Eidzauber – und umso besser, wenn der Unflat und die Anwürfe in das Gerichtsprotokoll eingingen! Und wenn einer, oder eine, von ihnen schuldig war, würde er, oder sie, doch nicht durch die Weigerung, sich verhören zu lassen, Verdacht erregen wollen. Und … ich hatte ja nicht gesagt, dass Tanil nach der eventuellen Vertauschung fragen würde. Ebenso wenig aber, dass nicht! Nach kurzem Zögern nickte denn auch Ronelli Amandor und verkündete, er gehe als Erster hinein. Salia und Arslan folgten, Letzterer ein wenig widerstrebend, aber doch sichtlich entschlossen, das Verfahren zu Ende zu bringen … So sicherte Cheila Tanils Zelt, in dem die Aussagen gemacht werden sollten, und führte Amandor als Ersten hinein.
Das dauerte dann natürlich seine Zeit. Eidzauber sind keine Lappalien, und das gerichtliche Verhör dabei muss mit aller Sorgfalt und unter Beachtung der Verfahrensregeln erfolgen, soll es bei einer eventuellen Berufungsverhandlung Bestand haben. Aber endlich war es geschafft, kam Salia, als Letzte, aus dem Zelt. Und das Gericht zog sich auf meinen Vorschlag zum Tee zurück.
»Fühlst du dich wohl?«, fragte ich da Tanil, die zwar etwas blass aussah, aber im Übrigen in bester Laune schien.
»Mir geht es gut … aber ihr werdet mir nicht glauben, was ich zu sagen habe!«
»Das sehen wir dann«, erwiderte ich. Nach dem Gesetz durfte sie solche unter Eidzauber gemachte Aussagen nur vor Gericht wiedergeben. Wir mussten deshalb warten, bis ich die Sitzung wieder eröffnet hatte. Aber ich konnte warten! Wir tranken also unseren Tee aus und kehrten an die Arbeit zurück.
»Die Verhandlung wird fortgeführt«, erklärte ich. »Und Frau Alana berichtet uns nun über die von Herrn Arslan Ashailli, Frau Salia Taillan und Herrn Ronelli Amandor unter Eidbann abgegebenen Erklärungen, soweit es für den anstehenden Fall relevant ist. Frau Tanil Alana, bitte …« Da erhob sie sich und sprach, an das versammelte Lager gewandt:
»Ich, Tanil Alana, von der Akademie des Obskuren geprüfte, vereidigte und zugelassene Hexe, habe heutigen Tages unter Eidzauber die von Frau MaCallan Arish schon identifizierten drei Bürger befragt.
Ich habe gehört, dass sie alle drei gegenüber Herrn Karran Taillan feindselige Gefühle hegten und Klagen hatten. Diese gingen von dem Vorwurf unlauterer Geschäftsmethoden bis zu dem der Verführung mittels Reichtums und Ansehens sowie dem ehelicher Vernachlässigung und Entfremdung.« Schön von ihr, dass sie die Beschwerden nicht Einzelnen zuordnete.
»Ich habe ebenfalls befunden, dass alle drei vorsätzlich und mit böswilliger Absicht versucht haben, den obersten Bolzen von Herrn Karran Taillans Köcher gegen einen unverzauberten Übungsbolzen auszuwechseln und den dann durch den aus Herrn Karran Taillans Köcher zu ersetzen.
Ich konnte nicht feststellen, in welcher Reihenfolge genau diese drei agierten, ob allein und ohne Wissen voneinander. Jedoch scheint aus dem Verhör hervorzugehen, dass der Erste den obersten der magischen Bolzen aus Herrn Karran Taillans Köcher entfernte und ihn durch den unverzauberten ersetzte. Dass der Zweite das dann, unwissentlich, rückgängig machte, indem er den unverzauberten Bolzen in Herrn Karran Taillans Köcher durch den jetzt aus dem Köcher mit den Übungsbolzen entnommenen verzauberten ersetzte. Und dass der Dritte dies wieder rückgängig machte, indem er den verzauberten Bolzen aus Herrn Karran Taillans Köcher nahm und ihn durch diesen unverzauberten ersetzte. Und das war dann jener, der Herrn Karran Taillan gestrigen Tags bei der Konfrontation mit dem Todeslöwen im Stich ließ.
Während nun nur zwei tatsächlich einen verzauberten Bolzen durch den unverzauberten ersetzt haben, sind wir doch nicht in der Lage festzustellen, wer sie waren. Es ist jedoch zu betonen, dass alle Handlungen mit der Intention, Verbrechen zu begehen, selbst Verbrechen sind, und zwar unabhängig von ihrem Erfolg oder Scheitern. Darum spreche ich Herrn Arslan Ashailli sowie Frau Salia Taillan und Herrn Ronelli Amandor aufgrund ihrer eigenen, hier heute unter Eidbann gemachten Aussagen für des versuchten Mordes schuldig.«
Sie setzte sich, unter allgemeiner Verblüffung. Ich sah die drei Schuldiggesprochenen an. Sie erwiderten meinen Blick so erstaunt wie bestürzt. Wer hätte ihnen das verdenken können? Armand fand als Erster Fassung und Sprache wieder.
»Cheila MacLeish«, kommandierte er in einem Ton, der vielen Kadetten sehr vertraut gewesen sein dürfte, »übernimm diese Gefangenen und verwahre sie wohl und von einander getrennt, bis sie der Justiz von Dienni übergeben werden können.« Und Cheila nahm doch tatsächlich Haltung an, ehe sie ihrerseits die nötigen Befehle erteilte! Da kam ich aber wieder zu mir – rechtzeitig, um das Gericht ordnungsgemäß aufzuheben. Und so gingen wir ins Messezelt, auf ein Glas Wein. Wir konnten jetzt alle eins gebrauchen.
Es war spät geworden, und so stellten die Köche schnell ein »Resteessen« zusammen. Es war gut, die Atmosphäre zwanglos. Natürlich waren die Ereignisse des Tages das Tischgespräch, und so gingen wir das Ergebnis wieder und wieder durch. Ich bemerkte zwar, dass Tanil nur still und ernst war, schob das jedoch auf die Arbeit, die sie an diesem Tag erledigt hatte. Eidzauber sind ja eine anstrengende Sache.
Sie trat, als man die Tafel aufgehoben hatte, zu Armand und mir und bat uns, einmal mitzukommen, führte uns dann zu der Todeskatze, die den armen Karran getötet hatte, und deutete auf deren Schädel. »Fällt euch etwas auf?«, fragte sie bloß. Armand und ich strengten unsere Augen an – schüttelten aber schließlich den Kopf. »Ich will euch helfen«, sagte sie und legte uns die Hände auf den Kopf.
Ein merkwürdiges Gefühl gab das, eine seltsame Mischung aus Erschlaffung und aus Schärfung der Sinne: Tanil ließ uns an ihrer Hexensicht teilhaben, ja, dehnte sie aus … und ließ uns sehen, was sie sah. Nun musterte ich den Todeslöwen von Neuem, ohne erst jedoch etwas zu entdecken. Dann gingen mir aber wirklich die Augen auf!
»Es ist Karran!«, rief ich aus.
»Bei den Göttern, profan und besudelt!«, war Armands, recht poetische, Reaktion.
»Ja«, seufzte Tanil. »Es ist wirklich Karrans Tod. Sie waren beide alt, und die Todeskatze war bereit hinüberzugehen, um Karran am Ende seines Lebens zu begegnen.«
Damit ließ sie uns, und es schwand meine Vision. Aber nicht die Erinnerung daran.
»Karran Taillans Schicksal war es wohl, hier seinen Tod zu finden«, murmelte Armand, fast ungläubig.
»Ich weiß nicht, ob ›Schicksal‹ hier denn das richtige Wort ist«, erwiderte Tanil. »Da mögen Kräfte der Natur oder des Obskuren am Werk sein, die sich unserer Kenntnis entziehen. Und es kann ganz einfach der bizarrste Zufall gewesen sein. Aber Karran hat offenbar seinen eigenen Tod gejagt, und der hat ihn gefunden.« Wir standen da noch lange Zeit, jeder so in seine Gedanken versunken, ehe wir zu unseren Zelten zurückkehrten.
Es ist Winter hier in Dienni, da ich diesen Abschlussbericht schreibe. Ein Gericht Diennis hat die drei des Mordversuchs, während einer Safari in der Anderwelt, für schuldig befunden und zu schweren Geldstrafen verurteilt. Arslan Ashailli hat zwar Gut und Gestüt behalten, aber doch den Großteil seines Vermögens verloren. Und Ronelli Amandor darf nicht mehr als Anwalt praktizieren und musste eine empfindliche Geldstrafe bezahlen. Er hat Saha geheiratet und wohnt nun mit ihr bei ihrem Onkel. Sie hat aber alle Rechte am Erbe ihres Mannes verloren. Es ist unter seinen Verwandten aufgeteilt worden.
Die Fangzähne des Todeslöwen hängen nun über meinem Kamin. Armand und ich haben (mit der Hilfe eines Ghostwriters) über die Vorfälle auf dieser Safari ein Buch geschrieben und ein hübsches Sümmchen damit verdient. Mir haben diese Einkünfte erlaubt, mir im besseren Viertel der Stadt ein schönes Haus zu kaufen. Ich leite noch immer Safaris, frage mich jedoch, ob nicht irgendwo nun eine Todeslöwin auf mich wartet. Tanil meint, das sei gut möglich, aber der Tod finde uns alle, wo immer auch wir sein mögen. Ich werde ja sehen …